Das Programm „Mit mir nicht!“

Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die Förderung psychischer Gesundheit ebenso wichtig ist wie z. B. das Propagieren gesunder Ernährung oder ausreichender Bewegung. Immerhin prognostiziert die WHO für das 21. Jahrhundert, dass die Zahl der depressiven Störungen letztlich jene der Herz-Kreislauf-Erkrankungen überholen wird. Und Studien offenbaren bereits jetzt, dass psychische Störungen zu den häufigsten Gründen für Frührenten zählen.
Burnout, Stress, Depression, Angst- oder Zwangsstörungen, Essstörungen und andere Formen der Abhängigkeit sowie die Folgen sexuellen Missbrauchs sind keine unbekannten Schlagworte mehr. Ganz im Gegenteil: Beinahe jeder kennt eine Person mit einer dieser seelischen Störungen, wenn man nicht sogar selbst oder jemand aus der eigenen Familie davon betroffen ist.

Die Gründe für die Zunahme dieser Erkrankungen sind vielfältig. Selbstverständlich gibt es psychische Störungen, seitdem Menschen existieren. Viel zu lange waren diese Erkrankungen jedoch von der Gesellschaft tabuisiert und wurden verschwiegen. Als Rechtfertigung einer ernsthaften Erkrankung galten und gelten mitunter heute noch ausschließlich körperliche Beschwerden. Nicht zuletzt wurde aus diesem Umstand heraus für eine depressive Erkrankung der Begriff Burnout oder für eine Überforderung das häufig strapazierte Wort „Stress“ kreiert. Das zeigt, dass die Gesellschaft noch immer „sprachliche Krücken“ braucht, um seelische Belastungen als Grund für eine mögliche Arbeitsunfähigkeit zu akzeptieren.
Abgesehen von genetischen Veranlagungen und Störungen im Hirnstoffwechsel nehmen darüber hinaus seelische Störungen auf Grund von familiären Defiziten in der kindlichen Entwicklung, wegen erhöhter Leistungsanforderungen in der Ausbildung bzw. im Beruf sowie auf Grund verminderter und veränderter Kommunikation zu.

Depression
So zählt die häufig unterschätzte Depression zu den ernsthaftesten und gefährlichsten Erkrankungen, weil ein möglicher Suizid als deren Folge dem Leben des Patienten ein endgültiges Ende beschert. Depression lässt sich nicht mit der oft gut gemeinten Aufforderung „Reiß dich zusammen“ lindern und hat auch nichts mit Trauer zu tun, die man beim Tod eines geliebten Menschen oder nach einer Trennung erlebt. Menschen, die an dieser seelischen Störung erkranken, fühlen sich schnell überfordert und übertrieben ängstlich, aber auch emotionslos (sie fühlen sich wie ein Stein).

Panikattacken und Angststörungen
Bei Panikattacken und Angststörungen, auch Phobien genannt, handelt es sich um krankhafte Ängste, an denen Patienten oft über Jahre hinweg leiden, wenn die Erkrankung unbehandelt bleibt. Sie führen zu einer enormen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen, da (Todes-)Ängste den Handlungsradius stark einschränken. Der Einkauf im Supermarkt, das Fahren im Aufzug, das Sprechen vor Menschen oder das Betreten öffentlicher Gebäude werden für sie zum Martyrium.

Zwangshandlungen und -gedanken
Auch Menschen mit Zwangshandlungen und -gedanken leiden sehr unter ihrer Fehlleistung. Selbst wenn solche Patienten um die Unsinnigkeit ihrer zwanghaften Handlungen wissen, „müssen“ sie ihren Zwängen nachgehen, weil sonst unerträgliche Ängste entstünden. Daher nehmen sie stundenlanges Waschen, ständiges Zählen, pedantisches Putzen oder permanentes Kontrollieren in Kauf. Die Einsicht, etwas gegen diese Art der Erkrankung unternehmen zu müssen, kommt meistens sehr spät und vor allem erst auf Druck der Angehörigen, die mit den zwanghaften Handlungen der Person nicht mehr leben können.

Abhängigkeiten und Sucht           
Komasaufen, Magersucht, Internetsucht oder Sportsucht sind nur eine kleine Auswahl von Abhängigkeiten und Süchten, die aktuell Erwähnung finden und die vielfach das Symptom für eine psychische Störung sind. Gerade Alkoholiker trinken, weil der Alkohol die Angst, die durch die depressionsbedingte Überforderung entsteht, dämpft bzw. löst. Dass diese Methode jedoch einem Trugschluss folgt, weiß der Betroffene spätestens dann, wenn er immer mehr Alkohol zur Beruhigung braucht. Dann tritt nämlich der umgekehrte Effekt ein: Der Alkohol wirkt depressiogen, das heißt, er verstärkt die Depression. Man könnte auch sagen: Der Abhängige versucht, „den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben“.

Sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch ist nicht ausschließlich – wie fälschlicherweise häufig angenommen – mit Gewalt erzwungener Geschlechtsverkehr; auch verbale Äußerungen, die eine Person in ihrer Geschlechtlichkeit abqualifizieren, oder erzwungene Handlungen, die den Täter befriedigen, sind Grenzverletzungen und damit sexuelle Gewalt. Obwohl – juristisch gesehen – diese Handlungen nicht eindeutig als sexueller Missbrauch qualifiziert werden, liegt ein solcher auf jeden Fall dann vor, wenn jemand ein Kind für die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse benutzt und ihm das psychische Erleben des Kindes nichts bedeutet.
Man weiß heute, dass sexuelle Gewalt am häufigsten innerhalb der Familie stattfindet und die Täter oft aus dem nahen Umfeld des Kindes kommen. Es nützt daher auch nichts, Kindern als Ratschlag mitzugeben „Steige nie ein fremdes Auto“ oder „Lass dich nicht von fremden Menschen ansprechen“. Um den sexuellen Miss-brauch und damit seine seelischen Folgen zu verhindern, bedarf es ebenso jener Prävention, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Förderung der kindlichen Lebenskompetenzen („life skills“) propagiert.

Förderung der Lebenskompetenzen
Menschen können wesentlich vor seelischen Störungen geschützt werden, wenn sie früh genug lernen, sich mit ihrem seelischen Empfinden auseinanderzusetzen. Die prägendsten Jahre eines Kindes sind die zwischen seiner Geburt und dem 6. Lebensjahr. Alles, was sich das Kind in dieser Zeit an positiver Lebensbewältigung aneignen kann, bildet die Basis für spätere Lebenskompetenz. Daher ist es auch wichtig, dass – neben der Förderung durch die Eltern – Kinder bereits im Kindergarten in die Lage versetzt werden, über ihre Gefühle und ihre Befindlichkeiten zu sprechen und diese in der Gruppe bewusst zu erleben.


Diese pädagogischen Ziele sind im Grunde nichts Neues und sie werden von Erzieherinnen schon seit Jahren unter dem Begriff „soziales Lernen“ wahrgenommen. Tagtäglich sind sie in der Kinderbetreuung mit diesen didaktischen Herausforderungen konfrontiert und es gibt mittlerweile auch zahlreiche Präventions-Programme, die die Erzieherinnen mehr oder weniger intensiv in der Aufgabe unterstützen, die psychische Gesundheit von Kindern zu fördern.

Die Weltgesundheitsorganisation entwickelte eine Strategie zur Förderung der Lebenskompetenzen, die auf der Vermittlung von fünf Aspekten beruht:

Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen
Indem Kinder Vertrauen in die Wahrnehmung der eigenen Gefühle gewinnen, stärken sie nicht nur ihre Selbstwahrnehmung, sondern sie lernen auch, die Gefühle anderer zu respektieren.

Umgang mit Stress und negativen Emotionen
Stress, Angst und negative Emotionen entstehen, wenn eine Situation als bedrohlich eingeschätzt und die eigenen Ressourcen als nicht ausreichend beurteilt werden. Daher ist es wichtig, den Kindern Handlungsstrategien zu vermitteln, damit solche Situationen keine Belastung, sondern eine Herausforderung darstellen.

Kommunikation
Kinder sollen sich ein vielfältiges Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten aneignen, damit sie ihre eigenen Gefühle ausdrücken und die ihrer Mitmenschen verstehen lernen. Das vermeidet Missverständnisse und fördert den Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzes.

Kritisches und kreatives Denken
Kinder sollen für die vielfältigen Einflüsse aus ihrem sozialen Umfeld und aus der Gesellschaft sensibilisiert werden. Kritisches Denken, das zugleich kreatives Denken ist, führt zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl, das Kinder in die Lage versetzt, sich gegenüber negativen Beeinflussungen zu behaupten.

Problemlösen
Die Fähigkeit zum Problemlösen zeigt sich in einer verbesserten Entscheidungsfindung und verhindert damit, dass ungelöste Probleme zu Verursachern von Ersatzhandlungen werden.

Förderung der psychischen Gesundheit
Das Präventionsprogramm „Mit mir nicht!“ zur Förderung der psychischen Gesundheit unserer Kinder
•  berücksichtigt das bereits praktizierte Engagement der Erzieherinnen und
•  versteht sich ausschließlich als ein pädagogisches Hilfsmittel.

Auf keinen Fall stellt es eine zusätzliche Aufgabe dar, die Erzieherinnen wahrnehmen müssten. Ganz im Gegenteil: Gerade weil immer mehr gesellschaftlich relevante Themen in den pädagogischen Alltag einfließen und ihn beeinflussen, sollen diese Materialien die Arbeit der Erzieherinnen erleichtern.

In der Kinderschutz-Box befinden sich rund 20 verschiedene Materialien, mit denen man an die 70 Spielvarianten spielen kann. Die Materialien sind als ein methodisch-didaktisch niederschwelliges Angebot zu verstehen. Das heißt, Erzieherinnen können, wann immer es in den Ablauf des Kindergarten-Alltags passt, Teile aus der Box nehmen und damit sofort spielen.

Die Spieldauer beträgt zwischen fünf Minuten und einer halben Stunde. Es ist auch nicht Sinn und Zweck unseres Präventionsprogrammes, sich über ein paar Wochen intensiv ausschließlich mit diesen Materialien zu beschäftigen.

Viel zielführender ist es, über das gesamte Kindergartenjahr hinweg immer wieder auf die Kinderschutz-Box zurückzugreifen und kleine Einheiten zu spielen. Nicht die quantitativ bestimmte Auseinandersetzung mit dem Thema und den Materialien führt zu positiven Auswirkungen bei den Kindern, sondern eine qualitäts- und freudvolle Beschäftigung mit ihnen.

Vor dem Hintergrund all dieser psychologischen Zusammenhänge sind die Spiele des „Mit mir nicht!“-Programmes zur Förderung der psychischen Gesundheit gestaltet. Sie sind nach der bereits erwähnten Strategie der WHO zur Stärkung der Lebenskompetenzen in die Bereiche
•  Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen
•  Umgang mit Stress und negativen Emotionen
•  Kommunikation           
•  Kritisches und kreatives Denken und
•  Problemlösen
gegliedert.

Viele Reaktionen und die Erfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen, die bereits seit Jahren mit der „Mit mir nicht!“- Präventionsprogramm arbeiten, bekräftigen die Sinnhaftigkeit des Einsatzes dieser Materialien im Bereich der Bewusstseinsbildung unserer Kinder.